Um was geht’s?
Ich vertrete die These, dass bei der Frage von zeitgemäßer Bildung auch zeitgemäße Fehlerkultur eine Rolle spielen sollte und einen genaueren Blick verdient.
Ein positiver Umgang mit Fehlern ist für Schüler:innen mit Blick auf die Arbeitswelt der Zukunft von Bedeutung, vor allem, wenn es zusehends mehr um Problemlösestrategien und kollaboratives Zusammenarbeiten geht. Lehrer:innen profitieren von einer positiven Fehlerkultur für ihre eigene Arbeit und können effektivere Lernbegleiter sein. Eine Schule die eine positive Fehlerkultur lebt, kann ein attraktiverer Arbeitsplatz sein.
Die Frage
Ich möchte gerne folgendes zur Diskussion stellen: Was macht eine positive Fehlerkultur aus, gerade im Zeitalter der digitalen Transformation? Was ist aber vielleicht auch hinderlich? Und: Kennt Ihr gute Praxisbeispiele?
Birgit Deppermann hat vor 3. Juni 2021 geschrieben
Ich denke, dass eine gute Fehlerkultur Aufgaben und Unterrichtsgespräche voraussetzt, in denen es nicht darum geht, die Aussagen auf Richtigkeit zu überprüfen, sondern darum, an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten. Dann ist schon einmal jeder Beitrag willkommen und kann, auch wenn nicht alle gleich viel beitragen, auf sein Potenzial hin betrachtet werden. Unterrichtsgespräche sollten also nicht Überprüfungsgespräche sein.
Kompetenzorientiertes Arbeiten mit Lernaufgaben lässt m.E. eine gute Fehlerkultur zu.
Zu einer guten Fehlerkultur gehören auch die Bereitschaft sich mit eigenen Fehlern auseinanderzusetzen und die Möglichkeit, sie dann selbst korrigieren zu können. Das kann durch ein formatives Feedback ermöglicht werden.
Nur ein paar Gedanken. 🙂
Catrin Ingerfeld hat vor 3. Juni 2021 geschrieben
Danke, Birgit, diese Gedanken teile ich und ergänze: ich selbst bin mit meinen Fehlern und den sowohl gemeinsamen und schülerorientierten, als auch den lehrerzentrierten Prozessen auch Teil dieser Fehlerkultur.
Christian Vanell hat vor 4. Juni 2021 geschrieben
Danke für deinen Impuls. Ich sehe das genauso. Der teilweise immer noch existente Fokus auf Richtig-/Falsch-Aufgaben hemmt kreatives und kritisches Denken. Die Lösung wird ja irgendwann präsentiert und am Ende geht es dann darum, was die Lehrkraft denkt.
Außerdem sollte es meiner Meinung nach darum gehen, Schüler*innen zu ermöglichen, von ihren Stärken aus auf ihre Schwächen zu schauen und einen Lernprozess auch als solchen zu verstehen. Schüler*innen von außen zu sagen, dass Fehler etwas Positives sind, bringt alleine relative wenig, dieser Gedanke müsste internalisiert sein. Der ständige Bezug auf ein vergleichendes Bewertungssystem steht dem aber entgegen, vor allem auch auf Basis des eigenen Erwartungsdrucks, den Schüler*innen daraus generieren.
In unserem Klassenraum. hängt ein Stärkenbaum, der Satz „Macht Fehler“ ist der erste, mit dem ich neue Klassen begrüße und ein kurzer Text einer Elftklässlerin zum Thema hängt im Raum. Ich merke aber immer wieder, dass das nur das Basislager auf dem Weg zu einer positiven Fehlerkultur ist.
Blanche Fabri hat vor 3. Juni 2021 geschrieben
Ich denke, es braucht vor allem psychologischen Sicherheit (Psychological safety: https://en.wikipedia.org/wiki/Psychological_safety). Der Begriff stammt aus der Unternehmenswelt, lässt sich aber gut auch auf Schule übertragen. Es braucht eine vertrauensvolle Atmosphäre und die ist gar nicht so einfach zu erreichen. Gerade junge Menschen sind oft unsicher und haben Angst sich lächerlich zu machen, oder?
Matthias Giger hat vor 3. Juni 2021 geschrieben
Dem kann ich nur zustimmen. Für eine Kultur der Innovation (Fehler sind hier die Folge von Handeln ausserhalb der eigenen Komfortzone), ist Vertrauen eine notwendige Voraussetzung. Vertrauen kann man als Lehrperson aber nicht einfordern, sondern man muss sich dieses verdienen.
Dabei hilfreich sind …
– eine wertschätzende Kommunikation;
– das Verhalten mit Fehlern vorzuleben (von menschlichen Reaktionen über eigene Missgeschicke bis zum nicht immer einfachen Eingeständnis, in einer Situation falsch gehandelt zu haben;
– die Bereitschaft, dem Grund für das Auftreten von Fehlern nachzugehen (nicht im Sinne einer Schuldzuweisung, sondern eben um daraus zu lernen).
Ausserdem ist es wichtig, dass die Lernenden auch wissen, welche Regeln im Umgang mit Fehlern von anderen gelten: Beispielsweise …
– zugegeben, dass einem der gleiche Fehler auch passiert ist oder hätte passieren können, statt andere wegen Fehlern auszulachen oder auszugrenzen;
– das Recht darauf, bei Unsicherheiten (oder Scheitern) Hilfe in Anspruch nehmen zu dürfen;
– das Wissen darum, dass in der Automatisierungsphase Fehler einen anderen Stellenwert haben als in der Erarbeitungs- und Übungsphase;
– Fehler in einem Bereich kein Indikator dafür sind, über welche Kompetenz ein Mensch in anderen Bereichen verfügt.
Und ganz konkret: Selbst einmal etwas Neues wagen, bei dem man trotz sorgfältiger Vorbereitung und Planung keine Erfolgssicherheit hat. Natürlich ist es nicht verboten, in einer solchen Situation die Lernenden entsprechend vorzuinformieren. Im Sinne von: Wenn es heute nicht klappt, dann liegt dies daran, dass ich damit auch noch keine Erfahrung habe.
Simone EmmEn hat vor 3. Juni 2021 geschrieben
„Und ganz konkret: Selbst einmal etwas Neues wagen, bei dem man trotz sorgfältiger Vorbereitung und Planung keine Erfolgssicherheit hat. Natürlich ist es nicht verboten, in einer solchen Situation die Lernenden entsprechend vorzuinformieren. Im Sinne von: Wenn es heute nicht klappt, dann liegt dies daran, dass ich damit auch noch keine Erfahrung habe.“
– Gerade diese Situation habe ich (und doch vermutlich ziemlich viele) gerade täglich. So viele neue Aufgabenformate und damit verbunden neue Tools/Technik, so viele neue Ideen und Impulse. Da läuft es an vielen Stellen noch nicht rund, aber ich versuche darüber auch ein Gefühl der Verbundenheit herzustellen: Wir lernen das gemeinsam. Gemeinsam werden wir „stärker/klüger/kompetenter“ aus dieser Zeit herausgehen und hoffentlich ganz viel mitnehmen.
Olaf hat vor 3. Juni 2021 geschrieben
Ich möchte einen kurzen Leseimpuls geben -> https://resilienzforum.com/wp-content/uploads/2018/01/Amann-Egger_Training-aktuell_Micro-Input_Resilienz_Fehler-Helfer.pdf
Über die Anagramme FEHLER – HELFER lässt sich meines Erachtens auch in Schulklassen gut eine Diskussion anstoßen. Wenn wir FEHLER wahrnehmen und offen und konstruktiv damit umgehen, stellen sie nach meiner Erfahrung sehr nützliche HELFER im Lernprozess dar.
Simone EmmEn hat vor 3. Juni 2021 geschrieben
Das habe ich die Tage erst im Twitterlehrerzimmer gesehen – und direkt als Impuls für neue Klassen nächstes Schuljahr vorgemerkt: Mit „Scrabble“-Buchstaben an die Tafel pinnen und dann umstellen lassen, anschließend im Klassenraum aufhängen, damit es schön präsent bleibt.
In Zukunft werde ich auch versuchen, sprachlich das noch mehr mit einfließen zu lassen. Bisher habe ich es meist so formuliert: „Danke für deinen Fehler, daraus können wir alle lernen.“ Vielleicht lässt sich daraus eine Formulierung basteln, die dieses Anagramm mitaufgreift: „Danke für deinen Fehler, er ist unser Helfer, um es besser zu verstehen“ oder so.
Roman Prydaczenko hat vor 3. Juni 2021 geschrieben
Für mich gehört zu einer positiven Fehlerkultur der Grundsatz, dass Fehler ausdrücklich erwünscht sind. Sie gehören zu jedem Arbeits- und Entwicklungsprozess dazu und sind oftmals die entscheidenden (Wende)-Punkte, an denen Lernen stattfindet. Diesen Grundsatz gilt es dann auch im Vorfeld immer wieder zu kommunizieren: „Du darfst Fehler machen, wenn du sie machst, bist du herzlich eingeladen deine Erfahrung mit anderen Lernenden zu teilen.“
Yasemin Gökkuş hat vor 3. Juni 2021 geschrieben
Endlich dieses Thema! (: Danke dafür und die wertvollen Beiträge! ?? ⭐
Meine kleine Ergänzung:
Durch Fehler gewinnt man 2:0.
1. Tor: Ich weiß nun, wie etwas nicht funktioniert. 2. Tor: Ich weiß nun, wie etwas funktioniert. Beides ist – auf einer Metaebene betrachtet – Wissen und Erfahrung, die in die persönliche ‚Gedankenstatistik‘ einfließt und als Wissen dort verarbeitet/genutzt wird (:
So sind wir doppelt so reich an Wissen.
Auf der Mikroebene ein konkretes Beispiel:
Ich bitte Lernende deshalb Fehler nicht wegzukillern, sodass sie nicht mehr zu sehen sind, sondern lieber diese als Fehler zu markieren/vllt durchzustreichen und das Rechtige dazuzuschreiben, denn beide Infos sind auf der Metaebene gleichwertig.
Schöne Grüße
Isabelle Schuhladen hat vor 4. Juni 2021 geschrieben
Genau Fehler sichtbar machen, sodass sie mich wieder auffallen, wenn ich die Seite wieder anschaue und mich damit auseinandersetze. Meine SuS markieren den Fehler und schreiben einen „Spickzettel“ dazu oder zeigen farbig (Fremdsprache), die Wege, die zur Lösung führen.
Isabelle Schuhladen hat vor 4. Juni 2021 geschrieben
Fehlerkultur ist eigentlich eine Lernkultur. Das setzt voraus (wie schon erwähnt), dass die Lernenden sich Vertrauen schenken, sich respektieren, die Feedbackregeln und das Leben in einer lernenden Organisation verinnerlicht haben. Dann werden Fehler als Chance wahrgenommen (Unsicherheit herrscht > wir wollen gemeinsam eine Lösung finden). Nach dem Entdecken eines Fehlers wird nicht die „richtige“ Lösung genannt, sondern den Weg gezeigt, wie ich zu einer Lösung komme. Bei Sprachen ist es auch oft so, dass mehrere Lösungen richtig sind (auch Grammatik).
Patrick hat vor 4. Juni 2021 geschrieben
Definitiv hinderlich ist die vorherrschende und vorgegebene Prüfungs(un)kultur, in meinem Fall an einem Gymnasium. Nur als ein Beispiel: Wir hatten vor einiger Zeit das sog. Dezernentenabitur, in dem wir als Schule überprüft wurden, wie wir das Abitur abnehmen- und eingenordet wurden, wie das Ganze „rechtssicher“ über die Bühne zu gehen hat. Da herrschte die Angst vor dem Fehler und das Denken in Defiziten – inklusive überbordender Bürokratie und Top-Down-Ansagen ohne eingeplante Möglichkeiten zur Rückmeldung durch die Lehrkräfte. Dahinter erkenne ich die Intention, egal ob bewusst oder unbewusst, dass wir LehrerInnen so behandelt werden, wir wir mit unseren SchülerInnen umgehen sollen. Solange das der Rahmen ist, wird eine Anerkennung des Fehlers als wertvolle Ressource zwar nicht unmöglich, da sehe ich schon noch Mittel und Wege für mich, aber die Grenzen sind viel enger gesteckt, als es notwendig und förderlich ist.
Niels Winkelmann hat vor 7. Juni 2021 geschrieben
Das ist das Framing, was leider an Schulen vorherrscht. Ich finde den Ausdruck „sicherstellen“ da auch sehr entlarvend. Wir sollen sicherstellen, dass SuS etwas gelernt haben oder eine bestimmte Kompetenz erworben haben. Das ist im Verständnis von Lernen schon falsch grundgelegt.
Und dann korrespondiert das mit der Fehler- und Lernkultur. Dabei kann ich mich sprichwörtlich auf den Kopf stellen. Und die SuS haben trotzdem nicht gelernt, was ich ihnen beibringen will – oder soll
Susi Kubicek hat vor 4. Juni 2021 geschrieben
Was mich nervt:
1. Schule und auch die Lehrerausbildung (im Sinne von: wie gehe ich mit den Fehlern meiner Schüler um) sind ja defizitorientiert.
Fehler werden markiert; hier ist der Fehler (ja, vom Lehrer gefunden!!); evtl noch eine Berichtigung dazu (oder SuS dürfen selbst berichtigen – sollen ja was lernen); fertig. An dieser Stelle ist ein Umdenken gefordert, damit diese demotivierende Feedbackschleife verlassen werden kann. Ich habe den Eindruck, dass dieser „revolutionäre“ Gedanke in den Lehrerzimmern erst einmal ankommen muss, weil es schlicht und einfach kaum jemand merkt! Das für die Schüler wichtigste Feedback (auf was auch immer sie ein Feedback erhalten: Klassenarbeiten/Schulaufgaben, Projekte, Portfolios, Referate, …) liegt auf der Ebene der Selbstregulation (was muss ich als S tun, damit ich das nächste Mal eine bessere Leistung erzielen kann) – hier setzt ja auch die zeitgemäße Prüfungskultur an.
2. SuS, die Angst haben, Fehler zu machen, weil sie so erzogen wurden – von der Schule.
Das dahingehend schlimmste Erlebnis war für mich der Unterrichtsbesuch bei einem Referendar, der nun ausgerechnet mich als seine betreuende Lehrerin ausgesucht hatte. Englischunterricht Mittelstufe. Kaum einen Satz konnten die SuS zu Ende sprechen. Immer wieder wurden sie von ihm unterbrochen und berichtigt. Ich musste so an mich halten, dass ich ihm nicht dazwischen fahre. In der Nachbesprechung dann die Auflösung: Das Seminar wolle es so! Für mich ist besonders in der Fremdsprache wichtig, dass SuS frei sprechen. Weder unterbreche ich sie, noch berichtige ich. Ich denke ans echte Leben. Da berichtigt dich auch niemand. Man versucht, dich zu verstehen. Man ist froh, dass du versuchst, die Sprache zu sprechen und dich verständlich zu machen (ich rede vom englischen Sprachraum). Das ist Realität. Ich bin meinen Schülern dahingehend auch offen. Berichtigungen gibt es im schriftlichen Bereich mit positivem Kommentar. Aber ich berichtige im Mündlichen, wenn ein Fehler passiert, der im echten Leben Missverständnisse hervorrufen könnte oder eine ungewollt andere inhaltliche Aussage hat. Nur so ist es möglich, eine angstfreie Atmosphare zu schaffen. Oft habe ich zu speziellen Fehlern eine Geschichte zu erzählen, weil der mir beim Erlernen der Fremdsprache auch unterlaufen und mich in eine interessante Situation gebracht hat. Es ist erstaunlich, wie solche Dinge SuS helfen, sich zu verbessern!
3. Fehler benoten zu müssen.
Ich habe mich in den letzten Tagen durch die Grundkursarbeiten meiner 12er geackert. Kurzgeschichte. Charakterisierung der Protagonistin. Ein Schüler hat sich an einem, eher unwesentlichen, Aspekt festgebissen und mein erster Gedanke war, dass das inhaltlich wohl auf mangelhaft hinauslaufen würde. Am Ende sollten die SuS ihre eigene Meinung zur Geschichte schreiben. Der Schüler bezog die Passivität der Protagonistin auf seine eigene Erfahrungswelt, sah Parallelen zu seinem drei Jahre älteren Bruder, der sich kurz vor Weihnachten das Leben genommen hat. Wie, bitte schön, soll ich da eine Benotung ansetzen?!?!?! Was hätte mir hier eine prozessbegleitende Art der Bewertung geholfen (meine Anfrage dahingehend wurde nach Ostern leider von der Stufenleitung gnadenlos abgeschmettert).
Yasemin Gökkus hat vor 5. Juni 2021 geschrieben
1. ??
2. ??
3. ??
Danke für den tollen Beitrag!?
Frauke Ellßel hat vor 4. Juni 2021 geschrieben
„Zu unterscheiden sind Lern- und Leistungssituationen. Fachliche Fehler in Lernsituationen werden als Quelle für die fachliche Weiterentwicklung angesehen, beurteilt wird in Lernsituationen die Intensität einer konstruktiven Auseinandersetzung mit fachlichen Fehlern. In Leistungssituationen hingegen gehen Quantität und Qualität fachlicher Fehler direkt in die Leistungsbeurteilung ein.“ (Bildungsplan Deutsch GYO, Bremen)
In der Praxis (als Klassenlehrkraft) mache ich die Erfahrung, dass die SchülerInnen sich jedoch eigentlich permanent (insgesamt in Schule, also nicht unbedingt bezogen auf meinen Unterricht im speziellen) in einer Leistungssituation (wie oben) wähnen. Klar gibt es Unterschiede zwischen Klausurzeit und Unterrichtsarbeit, aber die Frage der Beurteilung schwebt doch immer über ihnen. Daraus resultiert natürlich zum einen nicht zu unterschätzender dauerhafter Stress und Druck und zum anderen auch eine Haltung, in der eben nicht konstruktiv, offen mit Fehlern umgegangen wird.
Ich frage mich also, wie ich diese „Lernsituationen“ für die SuS noch sichtbarer und transparenter kenntlich machen kann. Gleichzeitig müsste das wohl auch in der ganzen Schule passieren – gibt es konkrete Erfahrungen, wie man diese Haltung besser vermitteln und erlebbar machen kann? Wie Isabelle oben schreibt ist das eine Frage der Kultur – Fehlerkultur, Lernkulture, Schulkultur – eine Kultur ändert man nicht „einfach so“…. Und die SuS bringen ja auch jahrelange Vorerfahrungen mit.
Und nochmal zur Formulierung aus dem Bildungsplan: „Intensität einer konstruktiven Auseinandersetzung mit fachlichen Fehlern.“ Das muss ja konkretisiert werden, ich denke, den SuS ist das auch zu schwammig und dann landen sie doch wieder bei richtig/falsch. Hat vielleicht dafür jemand ein Beispiel mit Indikatoren für diesen Bereich, die man in eine Matrix zur Beurteilung mündlicher Leistungenübernehmen könnte?
Die konkreten Vorschläge oben zur Reflexion (Fehler/Helfer etc.) sind sehr hilfreich, mehr davon bitte!
Andreas Kalt hat vor 12. Juni 2021 geschrieben
Hallo Frauke,
die Unterscheidung von Lern- und Leistungssituationen beschäftigt mich ebenfalls stark, denn all die genannten Aspekte der Fehlerkultur wirken kaum, wenn die Schüler:innen das Gefühl haben, dass jede Wortmeldung im Unterricht in eine Bewertung einfließt.
Während des Fernunterrichts gab es in vielen Klassen deutlich weniger Unterrichtsgespräch als sonst, daher bin ich – als es in der Präsenz dann irgendwann wieder um Noten ging – dazu übergegangen, mit jede:r Schüler:in ein kurzes fachliches Gespräch zu führen und dieses als mündliche Note zu bewerten. Ich hatte den Eindruck, dass das die Leistungssituation klarer umrissen hat als das sonst der Fall war.
Für das kommende Schuljahr habe ich mir überlegt, das auszuweiten und – neben der Besprechung der Wichtigkeit von Fehlern, der Fehlerkultur, dem Wörtchen „noch“ bei „Ich kann das noch nicht“ – den Unterricht zur bewertungsfreien Lernsituation zu erklären, die gelegentlich unterbrochen ist von klar angesagten bewerteten Leistungssituationen.
Was haltet Ihr von der Idee? Hat da jemand Erfahrung damit?
Danke für Eure Rückmeldungen.
Andreas
Patrick hat vor 5. Juni 2021 geschrieben
Ich bin über folgendes Zitat gestolpert, das für mich die Relevanz unseres Themas nochmals verdeutlicht. Gleichzeitig zeigt es für mich eine ganze Reihe von Zusammenhängen mit anderen Aspekten, die für mich anregend sind, um mein Unterrichtshandeln zu überdenken und verändern:
„Abwechslungsreicher Unterricht mit einem hohen Gehalt an kognitiver Aktivierung enthält eine ausgewogene Balance zwischen direkter Instruktion durch Lehrkräfte und aktivierenden Phasen, in denen Schülerinnen und Schüler zwar begleitet, aber mehr oder minder selbstgesteuert lernen. In allen Phasen des Unterrichts ist konstruktive Unterstützung möglich, z.B. durch
– positive, durch Respekt und Wertschätzung geprägte Beziehungen zwischen Lehrkräften und Lernenden (positive Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden),
– regelmäßige Erfassung des individuellen Lernfortschritts von Schülerinnen und Schülern und effektives Feedback (formatives Assessment),
– eine positive Fehlerkultur, die Fehler als notwendigen Teil von Lernprozessen betrachtet und konstruktiv als Lernchance nutzt (positive Fehlerkultur),
– strukturierende und erklärende Maßnahmen und Hilfestellungen bei Verständnisschwierig-keiten (Scaffolding).“
Sliwka u.a (2019): Konstruktive Unterstützung im Unterricht.
Wirksamer Unterricht_Band 3_ Sliwka et al (2019)_Web
Isabelle Schuhladen hat vor 7. Juni 2021 geschrieben
Was meine SuS sehr schätzen: Nachdem sie mein Feedback angehört oder gelesen haben, schreibt sich jeder 3 Lernziele und beschreibt sehr konkret, wie er diese Ziele Schritt für Schritt erreichen wird (Klare Beschreibung des Inhalts, was / wann/ wie lang). Sie bekommen Tipps und ? von mir wenn nötig oder erwünscht. Sie setzen sich ein Deadline. Anschließend bereite ich was für die Überprüfung oder die SuS selber.
Wer bewertet sein möchte: ok, die Entwicklung wird bewertet
Isabelle Schuhladen hat vor 7. Juni 2021 geschrieben
Eine Kultur wird gelebt. Die Transformation fängt bei mir an, dann kann ich sie vorleben und andere mitnehmen (Theorie U von Scharmer).
Perfektion gibt es nicht, oft wird sie noch als Ziel wahrgenommen. Als L zeige ich meinen SuS, dass ich Fehler mache, dass ich vieles nicht weiß. Wenn der L seine Schwäche zugibt, entsteht eine Atmosphäre der Kollaboration. > Wir sind eine lernende Organisation. Bei mir gibt es kein Lösungsmuster, wenn dann ein Erwartungshorizont, wo die Ideen und Ansätze der SuS eingebaut sind.
So früh wie möglich sollen wir den Kindern beibringen: Du bist gut wie du bist! Du hast Talente und Schwäche! Fallen tut jeder von uns. Um so früher ich lerne, daraus was zu lernen, um so leichter fällt es mir wieder aufzustehen und weiter zu kommen.
Birgit Deppermann hat vor 7. Juni 2021 geschrieben
Ja, da sehe ich auch einen wichtigen Ansatzpunkt: Man muss die Fehlerkultur vorleben. Klassen lassen sich oft sehr schnell auf die Lehrperson ein, und wenn ich mich selbst ab und zu hinterfrage, einen Fehler eingestehe und auch deutlich mache, wie ich es besser hätte machen können, also vom Fehler direkt zum Nachdenken über die Lösung zu gehen, sind Schüler*innen auch bereit, das zu übernehmen.
Jule hat vor 7. Juni 2021 geschrieben
Liebe Birgit,
ich stimme Dir (und allen Vor“schreiber:innen“ in allem zu und möchte noch folgendes ergänzen:
Ich finde es sehr wichtig, dass wir als Lehrer:innen auch immer wieder zeigen, dass auch wir täglich lernen, dabei Fehler machen, uns reflektieren und daran weiterentwickeln.
Wenn wir selbst die Idee vom „Lifelong Learning“ vorleben, wird auch Schüler:innen klar, dass niemand je „ausgelernt“ hat und dass Fehler ein natürlicher Bestandtteil von Lernprozessen sind.
Monica Hettrich hat vor 9. Juni 2021 geschrieben
Hallo liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich schreibe hier meinen ersten Beitrag im Rahmen eines Edunauten-Barcamps. Könnte sein, dass ich dabei etwas falsch mache 😉 Ich bitte, mir ides konstruktiv zurück zu melden, danke schon mal!
Also: Das Thema Fehlerkultur bearbeite ich seit dem Jahr 1997, als ich gemeinsam mit meinem damals ca. 53-jährigen Mathematik-Mentor im Referendariat über einen kleinen Artikel der beiden Schweizer Kollegen Peter Gallin und Urs Ruf gestolpert bin.
Wir haben damals gemeinsam beschlossen, spontan eine Arbeitsgruppe „Dialogischer Mathematikunterricht“ zu gründen und haben einfach los gelegt:
1. Tagebuchmethode in Mathematik
2. Arbeit mit Kernideen, zentralen Fragen und Aufträgen, die die SuS in dem Mathe-Tagebuch zu bearbeiten hatten
3. Auswerten der Tagebucheinträge im Plenum in der Klasse mit dem Ziel, an Fehlern zu lernen
4. Austausch in unserer Arbeitsgruppe über „typische“ oder „originelle“ Fehler, also „Perlen“ in den S-Aufschrieben, um als Lehrkräfte daran zu lernen – eine sensationell tolle Erfahrung!
Daraus wurde dann mehr, u.a. nachzulesen unter http://www.dialogischer-mathematikunterricht.de
Meine Erfahrung zum Thema Fehlerkultur speist sich daher aus der jahrelangen Arbeit mit „Tagebüchern“ in Mathematik und Physik.
Ich gebe Vielem absolut Recht, was einige von Euch in Ihren Beiträgen vorher schon geschrieben haben, vor allem Frauke Ellßel in Sachen „Leistungs- und Lernraum“: Im dialogischen Unterricht wird nicht nur ein „Produkt“ aus defizitorientierter Perspektive bewertet, sondern auch der Weg dorthin. Weg- und Produktnote ergänzen sich und werden den SuS gerechter.
Seitdem ich dies – so weit es möglich ist – praktiziere, lebe ich ruhigerem Gewissens, was Bewertungen angeht. Zudem lerne ich tagtäglich, weil ich meinen SuS beim Denken über die Schulter sehen darf.
So kann Vertrauen entstehen und der ständige Leistungs- und Perfektionsdruck nimmt ab. Ich selbst werde toleranter und das strahlt auf die SuS ab. Denn hinsichtlich des nötigen Vertrauens gebe ich u.a. auch Susi Kubicek Recht!
In höheren Klassen hilft auch das gegenseitige Kommentieren der SuS untereinander. Dazu habe ich u.a. eine kleine Anleitung konzipiert, die eine Vorlage von Gallin und Ruf aufgreift.
Das Beste dabei: Gerade im Distanzlernen war die Tagebuchidee die Rettung schlechthin! Es gab einfach weiterhin zentrale Fragen und Kernideen (oftmals nun im Video oder in der Videokonferenz), danach einen Arbeitsauftrag und die S-Bearbeitungen wurden in Moodle eingestellt.
Ich brauche KEINE Klassenarbeit mehr in diesem SJ und ich weiß recht genau, wo meine SuS stehen, welche Probleme da sind und wie wir weiterarbeiten können. Andere KuK in meinem Kollegium sind aktuell in den letzten Schulwochen in Präsenz mächtig im Stress und geben dies leider an die SuS weiter.
Mein Problem bei der Art des Vorgehens liegt jedoch – das will ich nicht verschweigen – bei meinen eigenen zeitlichen Ressourcen. Es ist sehr zeitwaufwändig, die S-Tagebücher regelmäßig zu lesen. Hier bedarf es daher einer praktikablen Regelung im Sinne der Lehrkraft: Ich lese dann, wenn es geht, und nur so viele S-Tagebücher, wie es eben möglich ist. Die SuS erhalten dazu dann schriftliche Rückmeldungen.
Kennt noch jemand das Vorgehen des Dialogischen Unterrichtes und hat Erfahrungen speziell mit dem Aspekt Fehlerkultur sammeln können?
Schüler-Rückmeldungen zum Reisejournal
Monica Hettrich hat vor 9. Juni 2021 geschrieben
Zwischenzeitlich ist gerade für den Aspekt „Fehlerkultur“ die sog. „Autographensammlung“ der SuS sehr zentral geworden:
Geeignete Auszüge aus S-Aufschrieben werden den anderen SuS zur Verfügung gestellt, um diese wiederum konstruktiv-kritisch rückzumelden, in der Regel ebenfalls schriftlich.
Damit rutscht Jede/r in die Rolle des Autors / der Autorin und Jede/r in die Rolle der Kritiker:innen. Dadurch entwickelt sich eine wertschätzende Kommunikation, die wiederum die Fehlerkultur durch Vertrauensbildung unterstützt.
Die Schriftlichkeit macht dabei Aussagen und auch Fehler verbindlich, d.h. niemand kann sich zurückziehen vom selbst Ausgedrückten. Ein/e Autor:in macht sich angreifbar und verletzbar, zugleich ist dieses Risiko aber auch die Chance für echte und wertschätzende Rückmeldungen.
Matthias Giger hat vor 12. Juni 2021 geschrieben
Beim Tagebucheinsatz würde mich interessieren, wie ihr mit Schülerinnen und Schülern umgeht, die sich schriftlich (noch) nicht fliessend ausdrücken können. Welchen Einfluss hat dies eurer Meinung nach auf die einzelnen Beiträge und die Belastung der Lernenden? Verwendet ihr in den Tagebüchern nebst Text auch andere (multimediale) Bestandteile? Wie viel Zeit wendet ihr für Rückmeldungen auf? Oder ganz allgemein: Wie organsiert ihr diese?
Matthias Giger hat vor 12. Juni 2021 geschrieben
Der Navigationsgerät-Ansatz
Lernende machen Fehler, weil sie etwas noch nicht wissen, können oder eine Fertigkeit zu wenig automatisiert haben. Darauf reagieren wir Lehrpersonen, insbesondere wenn die Fehler zum wiederholten Male auftreten, manchmal leicht gereizt und verbinden dann unsere Rückmeldung vielleicht gar mit einem Kommentar zur Disposition des fehlerhaften Individuums vor uns.
Statt diesem manchmal tief eingeschliffenen Muster, empfehle ich auch den Navigationsgerät-Ansatz. Denn wenn ihr bei der Fahrt durch eine euch noch fremde Stadt an der falschen Stelle abbiegt, wird euch das Navigationsgerät darauf aufmerksam machen. Und in einem ersten Schritt bringt es ein paar Vorschläge, wie ihr wieder auf den ursprünglichen Pfad zurückkehren könnt. Wenn ihr euch aber total verfahren hat, dann passiert etwas Interessantes. Das Navigationsgerät besteht dann nämlich nicht mehr darauf, dass ihr zum Ort des „Fehlverhaltens“ zurückkehrt, sondern es berechnet unter Einbezug der aktuellen Lage einen neuen optimalen Weg.
Was das Navigationsgerät in diesem Prozess nie tut, ist euch darauf hinzuweisen, dass ihr entweder zu wenig aufgepasst habt oder aufgrund der genetischen Ausstattung wahrscheinlich sowieso nicht in der Lage seid, das anvisierte Ziel zu erreichen.
Wird der Navigationsgerät-Ansatz im Unterricht konsequent angewendet und auch von den Schülerinnen und Schülern in der gegenseitigen Interaktion eingefordert (und erklärt), entspannt sich die Stimmungslage automatisch und die Lernenden werden anderen und sich selbst gegenüber toleranter.
Wendet ihr einen ähnlichen Ansatz an? Vielleicht unter einem anderen Namen? Oder ertappt ihr euch dabei, dass ihr das Auftreten von Fehlern nutzt, um gleich eine Charakteranalyse anzustellen?
Andreas Kalt hat vor 12. Juni 2021 geschrieben
Diese Metapher finde ich sehr gelungen und eingängig. Danke dafür – werd ich ausprobieren.