Zurück in die Präsenz – und alles ist gut?
Jun 2, 2021 @ 14:19

Die Pandemie hat Schule und Kultusbürokratie entlarvt: das 19. Jhd-Modell von Schule ist nicht schnell, nicht partizipativ und es bildet auch nicht. Nun ist Corona hoffentlich überwunden, aber die Sehnsucht nach dem Klassenzimmer fühlt sich nicht richtig an. Wie kann Schule nach den Ferien vermeiden, einfach in den alten 45-Minuten-Fächer-Prüfen-Modus zurück zu kippen? Wie lässt sich Zukunft des Lernens gestalten – und alle LehrerInnen dabei mitnehmen? Wie kann man darüber diskutieren, ohne in Lager zu zerfallen?

Ich orientiere mich an @vedducation, der hier eine negative Ausgangslage beschrieben hat. Daraus abgeleitet brauchen Schule und Lernen: 1) Selbstbestimmung 2) authentische Lernsituationen 3) Platz für die Interessen der Lernenden 4) Individualität. 
Das sind schon fast Binsen. Trotzdem ist es unheimlich schwer, dieses Ziel anzusteuern. Weil es fast utopisch ist, wenn man bedenkt, wie restriktiv das herrschende Schulmodell ist und wie sehr die Debatte um Lernlücken nach Rückkehr zur Paukschule schmeckt. Gleichzeitig hat man im letzten Jahr gesehen, wie viel Veränderung möglich ist, wie kreativ und engagiert viele LehrerInnen sind. Ich plädiere daher für einen pragmatischen Weg. 

These
: Das neue Schuljahr sollte mit machbaren Zwischenschritten auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Lernen in authentischen Situationen gestaltet werden, die Platz für die Interessen der LernerInnen und ihre individuellen Wege geben. Aber. Mit diesem Mega-Programm kann man nicht das neue Schuljahr starten. Dafür braucht es Zwischenschritte.
Diese hier:
1) Der Nutzwert jeder Neuerung für SchülerInnen und LehrerInnen sollte sofort greifbar sein 
2) Die Kollegien sollten konkrete Veränderungsschritte sofort einklagen: Kooperation, Projekte, digitale Unterstützung
3) Die neuen Formen der Lehrerfortbildung sollten genutzt werden 
4) Etablierte Start-ups und Lerninitiativen aus der Coronazeit sollten Zugang zu Schulen bekommen
5) Die selbsternannte Avantgarde sollte in ihren Forderungen und Maßregelungen abrüsten. Wer jetzt überzieht, provoziert einen Rollback

Wie diskutieren wir? Ihr macht ein Video von 45 Sekunden mit Eurem Vorschlag, wie es nach diesem Sommer mit Schule weitergehen soll. Ihr nennt eine Liste mit 7 Punkten (oder drei oder fünf), die für Euch zum Schulstart 2021/22 unverzichtbar wären. Oder Ihr schreibt ein Essay. Und postet diese Sachen an @ciffi auf Twitter. Dann wird die Debatte da geführt, wo sie hin muss: in der Öffentlichkeit. Oder Ihr diskutiert erstmal hier im Kommentarbereich. Sowohl die Listen als auch das Essay können wir auch publizieren – wenn Ihr einverstanden seid.

2 Antworten
  1. Andreas Kalt hat einen Post der Session gewidmet: https://rete-mirabile.net/lernen/corona-lernprobleme-ueberwinden-1-motivation/

    Danke, Andreas!

    Wichtige Stellen: „zunächst ist z.B. eine sinnvolle, nicht bewertende Diagnose wichtig, die Wirksamkeit der Maßnahmen muss sichergestellt werden (und dazu gibt es in vielen Fällen empirische Daten) und es geht bei Weitem nicht nur um rein unterrichtliche Fragen, sondern auch um soziale und Entwicklungsaspekte.“

    Motivation entsteht demnach dort,
    * wo Schüler:innen einen gewissen Grad an Selbststeuerung und Freiheit erfahren („Autonomy“),
    * wo sie Wissen und Fähigkeiten entwickeln und kontinuierlich verbessern können in Bereichen, die sie für sinnvoll und wichtig erachten („Mastery“),
    * wo die Bedeutung, die Ziele und der Zweck des Lernens klar sind („Purpose“).

    „Fazit: Wenn man die Corona-Krise zum Anlass nimmt, die Lernmovitation der Schüler:innen konsequent in den Blick zu nehmen, ergeben sich durch den Fokus auf Selbststeuerung, kontinuierlichen Kompetenzzuwachs und die Ziele des Lernens mögliche Maßnahmen und Schulentwicklungswege, die Schule als ganzes besser machen und gleichzeitig bei Schüler:innen für mehr Lernmotivation sorgen können.“

  2. Hier einige persönliche Gedanken zu den gestellten Forderungen:

    1) Nutzwert von Neuerungen
    Aus meiner Erfahrung ist dieser „Nutzwert“ von Neuerung nicht immer sichtbar, teilweise ergibt er sich auch erst durch ein Zusammenspiel mit anderen Faktoren. Deshalb plädiere ich dafür, Dinge in Ruhe auszuprobieren (und den experimentellen Charakter auch klar zu benennen) und Erfahrungen zu sammeln, bevor man sich auf Forderungen versteift, die für andere vielleicht gar nicht nachvollziehbar sind oder dort ungewollte Folgen zeitigen.

    2) Konkrete Veränderungsschritte
    Bei konkreten Veränderungen überlege ich mir immer zuerst, ob es wirklich notwendig ist, das System „auf den Kopf zu stellen“, denn damit schafft man sich unnötige Blockaden. Vielfach ist es mit wenigen Anpassungen möglich, einen entsprechenden Ansatz in den bestehenden Strukturen umzusetzen. Damit erspart man sich viel Zeit für Strukturdiskussionen, welche meist nicht wirklich zur Lernqualität beitragen.

    3) Neue Formen der Lehrerfortbildung
    Niemand hindert einem daran, an solchen neuen Formen zu partizipieren. Was man aber in Kauf nehmen muss, dass die von der Schule angebotenen Bildungsangebote den eigenen Bedürfnissen nicht mehr wirklich entsprechen. Da lohnt es sich meiner Meinung nach durchaus, auf die eigenen guten Erfahrungen mit Alternativen hinzuweisen. Dazu muss man diese Erfahrung aber erst einmal gemacht haben. Denn es ist wesentlich einfacher, zu beschreiben, was einem nicht passt, als zu schildern, was man gerne möchte.

    4) Start-ups und Lerninitiativen aus der Coronazeit
    Mir ist hier nicht ganz klar, was gemeint ist. Bei uns war es so (wir waren nur 10 Wochen im Lockdown), dass wir Lehrpersonen das ganze Programm selbst umgestellt und gestemmt haben. Der Unterricht hat sich in dieser Zeit auch nicht wesentlich „weiterentwickelt“, sondern einfach den Gegebenheiten des Fernlernens angepasst. Persönlich kann ich von mir auch nicht behaupten, dass ich während dieser Zeit sehr viel gelernt hätte, eher war das Gegenteil der Fall, denn die verwendeten Ansätze habe ich, wenn auch nicht in dieser Ausprägung, vorher schon gepflegt.

    5) Avantgarde
    Auch hier ist mir nicht ganz klar, welche Avantgarde hier gemeint ist. Die Digitalbefürworter? Und wenn ja welche? Die Reformpädagogen? Wenn ja, welche Richtung?
    Ich finde es richtig, wenn Pioniere aufbauend auf konkreten Erfahrungen ihre Alternativen klar beschreiben und auch begründen, weshalb sie einiger dieser Alternativen für wünschenswert halten. Daraus zu schliessen, dass alle gleich diesem „Vorbild“ folgen sollen, ist dann wieder eine andere Sache. Häufig kommt bei mir aber auch der Verdacht auf, dass Forderungen in den Raum gestellt werden, deren ideologischen Aspekte den konkreten Erfahrungsteil bei weitem übersteigen. Besonders beliebt sind solche Forderungen insbesondere dann, wenn andere sie umsetzen dürfen.

    Für mich galt in den letzten Jahren: Ausprobieren, was vor Ort unter den gegebenen Umständen möglich ist, auf den gemachten Erfahrungen aufbauen und diese teilen, ohne den Anspruch, andere müssten den gleichen Pfad einschlagen. Ausserdem gilt: Man kann etwas auch einmal ganz im Stillen ausprobieren, ohne sich schon mit allen möglichen Kritikern rumschlagen zu müssen. Meist merkt man nämlich ziemlich schnell, die eigene „ach so gute“ Idee darf weiterverfolgt werden, für den Masseneinsatz taugt sie aber noch nicht.

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